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«Keine Diagnose» – Zwischen Hoffen und Hoffnungslosigkeit

© Foto: Thomas Suhner
Olivia, die am Aicardi Syndrom leidet, mit ihrer Mutter

Prof. Dr. med. Anita Rauch

Direktorin und Ordinaria für Medizinische Genetik
Institut für Medizinische Genetik Universität Zürich
© Foto: ZVG

Wenn die Krankheit keinen Namen hat und auch genetische Untersuchungen erfolglos bleiben, ist die Verzweiflung bei den Betroffenen oft gross. Prof. Dr. med. Anita Rauch macht dennoch Mut und sagt: «Es werden laufend neue Krankheitsgene entdeckt. Dranbleiben lohnt sich!»

Keine Diagnose und damit keine Prognosen und Therapiemöglichkeiten zu haben, muss für die Betroffenen extrem belastend sein. Wie erleben Sie das?

Teilweise sind die Betroffenen sehr verzweifelt, manche sind in jahrelanger ärztlicher Behandlung, werden von Untersuchung zu Untersuchung geschickt – ohne Ergebnis. Wenn die Genetik dann ebenfalls keine Antworten liefern kann, ist die Hoffnungslosigkeit gross.

75 Prozent der Betroffenen sind Kinder und Jugendliche. Was bedeutet diese Hoffnungslosigkeit für deren Eltern?

Die Situation ist für betroffene Eltern sehr schwierig und das Warten und Hoffen auf eine Diagnose anstrengend.
Oftmals liegen die Nerven blank. Zu sehen, dass es dem eigenen Kind schlecht geht, dass irgendetwas nicht stimmt, gleichzeitig aber keine Diagnose zu haben, ist für betroffene Eltern unerträglich. Die grösste Sorge ist dabei meist, nicht zu wissen, ob man allenfalls eine wirksame Therapie verpasst und dadurch bleibenden Schaden anrichtet. Zudem haben die Familien oft einen Ärzte- und Therapiemarathon hinter sich, fühlen sich verloren, schuldig und fragen sich, was sie falsch machen und wie sie ihr Kind noch besser fördern könnten. Nicht selten geraten sie in einen Teufelskreis und sind einfach nur erschöpft.

Wie nehmen Sie betroffenen Eltern diese Schuldgefühle?

Ich erkläre ihnen, dass ein Gendefekt nichts mit einem schlechten Erbgut zu tun hat und dass sie keine Schuld an der Krankheit ihres Kindes tragen. Vielmehr ist es entweder eine Laune der Natur oder schlichtweg ein blöder Zufall. Denn: Die Natur unserer Fortpflanzung ist so eingerichtet, dass unser Erbgut einer gewissen Neumutationsrate unterliegt und jeder von uns eine Handvoll Gendefekte in sich trägt. Wenn nun der Partner denselben Defekt mitbringt, kann das eine genetische Krankheit beim Kind auslösen.

Familien, deren Kind eine seltene Krankheit oder eben keine Diagnose hat, fühlen sich vielfach alleine und wissen nicht wie weiter. Was hilft ihnen in dieser Situation?

Der Austausch mit anderen Betroffenen und ihre Erfahrungen können sehr hilfreich sein. Ein wichtiges Instrument, das ich jeweils betroffenen Eltern an die Hand gebe, sind die Wissensbücher des Fördervereins für Kinder mit seltenen Krankheiten. Sie geben Eltern das wertvolle Gefühl, nicht alleine zu sein mit ihren Emotionen und mit ihrem neuen, unbekannten Leben. Ich mache den betroffenen Eltern aber auch Mut, denn es werden laufend neue Krankheitsgene entdeckt und die Chancen stehen gut, dass sich irgendwann ein Name für die Krankheit finden lässt.

Sie sind Präsidentin des gemeinnützigen Fördervereins für Kinder mit seltenen Krankheiten (KMSK) und setzen sich unter anderem dafür ein, dass dem Thema mehr Gehör verschafft wird. Weshalb liegt Ihnen dieses Engagement am Herzen?

Die Herausforderungen sind für betroffene Eltern riesig und sie haben mit so vielen verschiedenen Problemstellungen zu kämpfen. Eine Anlaufstelle wie der Förderverein, der auf ihre Anliegen unter anderem auch auf politischer und gesellschaftlicher Ebene aufmerksam macht, ist elementar. Zu sehen, dass es andere Betroffene mit ähnlichen Problemstellungen gibt, ist für diese Familien unglaublich wertvoll. 

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